20.4.24
Neukölln
Morgens vor neun auf dem Weg zur Arbeit, U8 Schönleinstraße.
Auf der halben Etage zwischen den Treppenaufgängen, gegenüber dem vietnamesischen Blumenladen, der hier im Untergrund wie ein Wunder seine Sumpfblütenexistenz verteidigt, gibt es einen toten Winkel. Er ist meistens mit einer Pisslache versehen, aber die BVG gibt sich neuerdings Mühe: der schwarze Estrich mit den vielen Rissen ist vor Morgengrauen sauber gewischt worden. Auch der Sims an der Mauer daneben, auf dem sonst häufig Spuren von weißem Pulver und leere Kunststoffhülsen mit Schnappdeckel verstreut sind, von der Art, die man Eppendorfgefäße nennt.
In dem Winkel, der heute so reinlich imponiert, hat sich eine junge Frau im Schneidersitz niedergelassen und werkelt mit Alufolie. Ein Fetzen davon liegt bereits vor ihr, darauf haftet etwas bräunliches; jetzt müht sie sich ab, aus dem Rest der Folie einen Inhalierhalm zu basteln. Die ganze Aktion ist offensichtlich übers Knie gebrochen. Profi-Konsumenten bringen sich ein Metallröhrchen mit.
Es ist einiges los um diese Zeit im U-Bahnhof Schönleinstraße, Leute müssen zur Arbeit, Kinder müssen in die Kita gebracht werden, keiner hält sich mit der jungen Frau auf. Nur ich kann mein Maul nicht halten.
„Entschuldigung, aber Sie können hier auf keinen Fall in der Öffentlichkeit Folie rauchen.“
Die Reaktion auf diesen Einwand kann, je nach Kontext, verschieden ausfallen. Im Fall der jungen Frau deuten die Planlosigkeit der Unternehmung und die Ungeduld beim Werkeln bereits auf einen gewissen Suchtdruck hin. Sie hat keine Zeit für Diskussionen und momentan überhaupt eine kurze Zündschnur; ich hätte mich genauso gut zwischen eine Löwin und ihren Riss drängeln können. Sie will mich aus den Augen, und zwar schleunigst, also versucht sie es mit Einschüchterung: springt auf mich zu und schreit mir ins Gesicht. Irgendwas mit Verpissen, die Worte sind nicht ganz klar.
Den Trick kenne ich schon. Ich weiß, dass ich jetzt keinen Schritt zurückweichen darf, sondern im Gegenteil einen halben Schritt vortreten muss. Als sie sieht, dass ihr Ausbruch keinen Erfolg hat, wirft sie sich zurück auf den Boden und widmet sich wieder dem Basteln.
„Sie gehen jetzt bitte woanders hin oder ich rufe die Polizei“, sage ich. Das klärt diese Art von Situation manchmal. Falls nicht, muss man den Worten Taten folgen lassen, das weiß jeder, der sich mal mit Pädagogik hat beschäftigen müssen. Wenn die Gegenseite mitbekommt, dass gerade mit der Polizei telefoniert wird, führt das mitunter zum Sinneswandel. Ansonsten zeigt sich die Polizei erfahrungsgemäß dankbar für den Hinweis und sagt zu, umgehend jemanden vorbeizuschicken.
Die junge Frau beeindruckt meine Ansage leider überhaupt nicht. Sie brüllt wieder irgendwas mit Verpissen, diesmal allerdings ohne die Augen von der Bastelarbeit zu nehmen. Ich nehme also mein Handy aus der Hosentasche, und in diesem Moment fällt mir etwas ein, das mir schon vorhin in der U-Bahn aufgefallen war und das ich im Eifer des Gefechts bequemerweise verdrängt hatte: mein Handy hat keinen Saft mehr. Hat nachts aus unerfindlichem Grund einfach nicht geladen.
Da ich nun ohne Druckmittel dastehe, kann ich im Grunde nur noch Leine ziehen. Es gibt aber eine letzte Option, die sich anbietet: den Bluff in Form der Einschüchterung, so wie ihn die junge Frau gerade schon angebracht hat. Ein Versuch kostet ja auch nichts.
Ich weise sie also lautstark an, jetzt sofort von Dannen zu ziehen, sonst würde ich ungemütlich. Ich versuche dabei, so viel Autorität wie möglich in meine Stimme zu legen. Dafür ist es hilfreich, wenn man die Luft tief vom Zwerchfell zieht.
„Halt's Maul oder's gibt 'ne Klatsche“, brüllt sie zurück. Ich erwidere, was ihr eigentlich einfiele, sie solle ihr Heroin gefälligst zu Hause konsumieren wie alle anderen auch. Wir zetern wie die Fischweiber, und die Leute, die an uns vorbeiziehen, wenden die Köpfe.
Eine Dame mit Fjällräven-Rucksack ist besorgt genug, um neben uns stehen zu bleiben und zu fragen, was denn los sei. Auch ein sportlicher junger Mann mit Vollbart und Fahrradkuriertasche hält an und versucht, die Situation zu durchdringen. Beide schauen ein wenig misstrauischer auf mich als auf die junge Frau mit der Alufolie. Es mag an meiner autoritären Stimmlage liegen.
„Ey, der soll mich in Ruhe lassen,“ kreischt die Folienfrau, während ich mein Bestes gebe, den beiden die Situation zu umreißen. Ich verleihe meinem Empfinden Ausdruck, dass wir als Gemeinschaft bestimmte Dinge nicht akzeptieren dürfen, und schließe ich mit einem Hinweis auf die vielen Kinder, die hier morgens vorbeilaufen.
Die beiden nehmen, da die Aggression vorerst gebändigt ist, eine inaktive Haltung an. Insbesondere bei der Dame entfaltet die Erwähnung der Kinder aber eine gewisse Wirkung. Nach etwas Überlegung wendet sie sich der Folienfrau zu und fragt behutsam, ob sie sich, da es eventuell ja wirklich nicht so ideal sei, wenn es alle mitkriegen, für das Rauchen vielleicht etwas mehr zur Wand drehen könne...?
Die Folienfrau murmelt Zustimmung, kommt der Bitte beinahe nach und fischt ihr Feuerzeug aus der Hosentasche.
„Hören Sie, das führt doch zu nichts“, resigniere ich. “Es wäre besser, die Polizei zu rufen. Ich würde es, wie gesagt, selbst tun, wenn mein Handy nur geladen wäre. Wenn also jemand von Ihnen so gut sein könnte...?“
Die Fjällräven-Dame reagiert mit einem sanften Achselzucken. Der junge Bartträger dagegen schaut mich an, als ob ich ihm gerade nahe gelegt hätte, den Nachbarn Böller in die Briefkästen zu stecken.
„Nein, so etwas mache ich nicht“, sagt er erschreckt.
Beschämt von so viel Menschengüte, schleiche ich mich davon. Später auf der Arbeit angelangt, kann ich die Polizei natürlich über das Festnetz verständigen, aber Hand aufs Herz: Wäre es nicht reine Rechthaberei?
14.3.24
Keine Gefahr
Die Leute, die uns jetzt raten, den Russen das Leben nicht so schwer zu machen - die uns also raten, wieder russisches Gas und Öl zu kaufen, die Handelssanktionen insgesamt aufzuheben, schleunigst damit aufzuhören, den Ukrainern Waffen zu liefern, und am besten gleich die Nato abzuschaffen -, diese Leute - Frau Wagenknecht zum Beispiel und Frau Mohamed Ali und noch ein paar andere - behaupten das natürlich ohne innere Widersprüche. Denn sie sagen uns ja gleichzeitig, dass wir diese übertriebenen Ängste vor Putin einfach mal sein lassen können. Weil wir von ihm und Russland nämlich nichts, rein gar nichts zu befürchten haben. Und sie kennen sich mit Putin anscheinend ganz gut aus.
Interessanterweise sind das genau die gleichen Leute, die noch kurz vor dem Überfalls Putins auf die Ukraine Stein und Bein geschworen haben, dass es nie im Leben zu solch einem Überfall kommen werde. Weil Putin an so einem Überfall ja gar kein Interesse haben könne.
17.2.24
Deutschland weiß es besser
Die Klimaerwärmung ist das unangefochtene Umweltproblem Nummer Eins. Das haben die meisten Leute mittlerweile begriffen. Es gibt jetzt sogar eine ganze Menge Menschen, gerade in Deutschland, die sagen, dass wir im Kampf gegen die Klimakatastrophe alle Register ziehen und uns selbstverständlich auch ein bisschen aus unserer Komfort-Zone hinausbewegen müssen.
Aber wenn wir etwas in Deutschland anfangen, dann richtig, und wenn wir schon anfangen, was für die Umwelt zu tun, dann schalten wir auch gleich die Atomkraft ab. Weil der Atommüll ja nun auch schlecht für die Umwelt ist, das weiß jedes Kind, spätestens seit den 80ern.
Und weil wir ja nun beim besten Willen nicht von heute auf morgen ausschließlich mit erneuerbaren Energien auskommen können, müssen wir halt die Kohle und das Gas noch ein bisschen länger verheizen. Nur vorübergehend, natürlich.
Schön, es gibt da ein paar Leute, die finden, dass wir auch Kohle und Gas abschalten und uns mit dem Energiemangel dann irgendwie arrangieren sollten. Wirtschaftswachstum sei sowieso überbewertet. Von diesen Leute gibt es aber nicht sehr viele. Denn es hört sich zwar irgendwie gut an, mit weniger Energie auszukommen und das ursprüngliche Leben wiederzuentdecken. Aber spätestens bei der Abschaffung von Ultraschall, Computertomographie, Intensivstationen, Frühgeborenen-Inkubatoren, Krebsmedikamenten, Antibiotika und so weiter hört bei der Mehrheit die Naturromantik auf.
Jetzt sagt plötzlich die halbe Welt - mit Ausnahme von Deutschland, Österreich und Luxemburg -, dass es ganz gut wäre, statt auf Kohle und Gas lieber auf Atomkraft zu setzen. Das Wichtigste sei schließlich, die Treibhausemissionen auf Null zu senken, das Problem mit dem Atommüll sei letztlich wissenschaftlich lösbar, die Klimakrise gehe hier vor, in Fukushima habe es keinen einzigen Toten durch Strahlung gegeben, blah blah blah.
Wir Deutschen wissen es glücklicherweise besser. Liebgewonnene Ansichten über Bord werfen, geht's noch?