I. 

   Wisse um das Männliche 

        Halte dich an das Weibliche 
 Sei der Welt Wasserlauf 

 Als der Welt Wasserlauf 

                         wird ewiger Tugend dir nicht mangeln 

                                                und du wirst rückkehren zum neugeborenen Kinde 


                                                                                                                             Daode-Jing, Str. XXVIII 


 

Miro war ein helles Köpfchen. Zuhause sprachen wir Deutsch, mit seiner Tagesmutter sprach er Chinesisch und in seinem Kindergarten Englisch, mühelos wechselte er zwischen den Sprachen, und er war erst fünf. Er war ein fröhliches Kind, gutartig und ausgeglichen, und entgegen aller Befürchtungen hatte ihn die Trennung zwischen seiner Mutter und mir nicht aus der Ruhe gebracht. 

Die Trennung war anderthalb Jahre her. Seitdem wohnte er die Hälfte der Zeit bei mir und die andere Hälfte bei seiner Mutter, jeweils für ein oder zwei Tage. Wir lebten weiterhin alle im gleichen Compound, so nannten die Ausländer die umfriedeten Hochhausanlagen, die in Shanghai üblich waren. Auch Miros Kindergarten war derselbe geblieben, und besonders dankbar war ich, dass er nach wie vor seine alte Tagesmutter zur Seite hatte. 

Wenn Miro nicht bei mir war, suchten mich oft die Erinnerungen heim. Besonders beim Aufwachen, wenn die Träume im Sinken begriffen waren, aber noch Strahlkraft hatten. Dann sah ich manchmal uns drei zusammen im Abendrot am Südchinesischen Meer. Es war Nebensaison, wir hatten den Strand für uns allein, und ich saß im Sand und filmte Tanja und Miro, wie sie mit den Wellen Haschen spielten und juchzten. Die Erinnerung an die beiden fühlte sich so lebendig an, als ob ich sie umarmen könnte. 

Ausgerechnet damals am Meer hatte ich angefangen, zu begreifen, dass meine Familie das Wichtigste in meinem Leben war. Nicht all die anderen Dinge, die mir immer wichtig vorgekommen waren. In mir war eine Vorstellung aufgestiegen, wie wir drei durch eine Landschaft aus Kämmen und Tälern zogen: gemeinsam einem Grat folgend, einer nach dem anderen, der Dämmerung entgegen. Ich hatte Zuversicht gespürt, trotz Tanjas Beichte. Wir hatten uns eine Paartherapeutin genommen, die mit Selbstvertrauen zu Werke ging und entsprechend viel Geld dafür nahm, und Tanja hatte nachdrücklich erklärt, dass die Affäre vorbei sei und ihr nichts bedeutet hatte. 

Die Zuversicht hatte sich leider als ungerechtfertigt herausgestellt. Nach einem Jahr Paartherapie hatte Tanja die Gelegenheit genutzt, innerhalb des Compounds günstig eine neue Wohnung zu bekommen, und war ausgezogen. Trotz ihrer Anstrengung, es zu verheimlichen, war wiederum kurz danach herausgekommen, dass die Affäre doch nicht ganz vorbei war. An diesem Punkt hatte ich die Deeskalation seinlassen und sie vor die Wahl gestellt. Nach ein paar Tagen Bedenkzeit hatte sie sich dann für ihre Affäre entschieden. 

Unser Compound bestand aus vier Hochhäusern, die sich einen Innenhof mit Grünanlage teilten. Tanja und ich wohnten nun schräg gegenüber voneinander, die Balkone in Rufweite. Es war gut für Miro und praktisch für Xiao Huang, unsere Tagesmutter und Haushälterin. Es gefiel Tanja allerdings nicht, dass ich ihren Balkon einsehen konnte. Unser Arrangement betreffend Miro gefiel ihr ebenfalls nicht. Und was sie am meisten auf die Palme brachte, war meine Verbundenheit mit Shanghai. Sie hatte die Nase voll von der Stadt. 

Für Miro und mich bedeutete das alles nichts Gutes. 

 

 

Mittwoch, 13. November. Zeit bis zur Abreise: Ein Tag, 22 Stunden 

 

An Morgen wie diesem, wenn Miro bei mir war, suchten mich keine Erinnerungen heim. Er kam irgendwann nachts aus seinem Bett in meins hinüber, und wenn der Wecker klingelte und ich aufstand, schlief er ungerührt weiter. Ich hörte eine Weile zu, wie er atmete, dann stand ich auf und warf meinen Morgenmantel über. 

Es war der vorletzte Tag, bevor ich nach Wu-Dang reisen würde. 

Man weckte Miro besser mit Fingerspitzengefühl. Am Wochenende, wenn er morgens seine Kinderfilme schauen durfte, sprang er früh und hellwach aus dem Bett, aber unter der Woche musste ich ihn wecken, und zwar behutsam, sonst wurde er bei noch geschlossenen Augen böse. Ich zog mich an und kramte im Bad herum und kochte Tee, und als ich in die Gänge gekommen war, ging ich wieder zu ihm und kitzelte ihn den Rücken entlang, bis er lachen musste. 

Er hatte wie immer die Wahl zwischen Haferbrei und Cornflakes zum Frühstück, und wie immer seit einigen Wochen wählte er die Cornflakes, und ich saß mit ihm am Tisch, während er aß, und trank Milchtee. Kaffee vertrug ich nicht mehr. Ich hatte meine Übersäuerung lange ignoriert, bis sich an einem Vorabend der Trennung das Sodbrennen plötzlich in das Gefühl verwandelt hatte, jemand hielte mir einen Lötkolben an die Stelle, wo die Speiseröhre in den Magen überging. Der Schmerz war nur allmählich über fünf Tage wieder abgeflaut, und danach hatte ich den Kaffee aufgegeben und begonnen, Omeprazol zu schlucken. 

„Holst du mich heute vom Kindergarten ab oder Xiao Huang?“, fragte Miro. 

„Ich. Heute ist ja Mittwoch. Ich hole dich ab, und dann gehen wir zum Stadtgotttempel und zum Yu-Garten.“ 

Er nickte zufrieden und aß seine Cornflakes. Er mochte die Souvenirläden am Stadtgotttempel, sie steckten voller Dreigroschenspielzeug. Was immer man kaufte, war nach spätestens drei Wochen kaputt. Aber nach drei Wochen erlahmte Miros Interesse für neues Spielzeug sowieso, egal ob es sich um etwas Ordentliches und Teures oder Plastikschrott handelte. 

 

Mein Fahrrad war im Hausflur abgestellt, und während ich es aufschloss, bat ich Miro, den Aufzug zu holen. Zur Stoßzeit am Morgen dauerte es immer etwas länger, bis er kam. Nicht, dass wir uns beschwert hätten. Das Haus hatte zwanzig Stockwerke und zwei Fahrstühle. Das Gebäude nebenan, in welchem wir früher gewohnt hatten, hatte auch nur zwei Fahrstühle, aber achtundzwanzig Stockwerke. Wir hatten im siebenundzwanzigsten gewohnt und zu Stoßzeiten mindestens eine Viertelstunde auf den Aufzug warten müssen. 

An der Wand neben den Fahrstühlen klebten zwei neue Aushänge. Der eine war auf Chinesisch. Auf dem anderen stand die englische Übersetzung: 

 

Friendly Tips 

To meet the Civilization Office of Shanghai Century Park District name check, November 18, 2013, please put the households within the corridor will heap objects (including vehicles) to clean, maintain a clean and smooth channel, during inspection, if found channel stacking objects be handled as non-primary goods, at your peril. Members with the support of residents together to create a national civilized city Xuhui district to contribute. 

 

Ich musste es zweimal lesen. Miro schaute interessiert zu. 

„Was steht da?“ 

„Am Montag wird die Hausverwaltung eine Kontrolle der Korridore durchführen. Da müssen wir das Fahrrad besser woanders abstellen.“ 

Wir fuhren nach unten. In der Eingangshalle stand die Concierge an der Fensterfront und schlug mit etwas, das wie ein elektrischer Tennisschläger aussah, nach Fliegen. Sie erwischte eine, und die Fliege zerplatzte durch die Stromspannung in einem lauten Knall. Nebenbei unterhielt sich die Concierge mit einer Zugehfrau, die auf einem der Sofas saß und ein Ausländerbaby auf dem Schoss hielt. Sobald sie Miro erblickte, begrüßte sie ihn, wie sie es immer tat: Sie kreischte. 

„Milu! Zaoshang hao!“ 

Wie meistens versuchte Miro, sie zu ignorieren. 

„Sagst du der Concierge bitte Guten Morgen? Es ist sonst unhöflich“, sagte ich. 

„Zaoshang hao“, sagte Miro säuerlich. Er war ein blondes, hellhäutiges, hübsches Kind, und das Getue, das die Leute um ihn machten, ging ihm auf die Nerven. 

Draußen empfing uns kein blauer Himmel, das kam seit drei Jahren immer seltener vor, aber auch kein Smog. Es herrschte aufgeräumtes Herbstwetter. Wir nahmen das Hintertor des Compounds und bogen in die Jiashan Lu ab. In meinem Rücken begann Miro, vor sich hin zu summen. 

Die Jiashan Lu befand sich in ihrer Morgengeschäftigkeit. Die Händler hatten die Rolltore ihrer Läden hochgezogen und Kisten mit Obst und Gemüse nach draußen gestellt. Die Plastikbottiche, in denen mehr oder weniger lebendige Fische schwammen, standen auf dem Bürgersteig, und Fischblut und Schuppen besudelten den Rinnstein. Vor dem Laden für Dampfnudeln standen auf den Siedeöfen Stapel aus Bambuskörben inmitten weißer Schwaden. Es duftete nach Mantou* und nach Shao-Mai**, und es stank nach den Hühnern, die direkt nebenan lebend verkauft und dann mit Kehlschnitt getötet, gerupft und ausgeweidet wurden. 

Die Nachbarschaft der Jiashan Lu war altehrwürdig. Früher hatte sie Rue Gaston Kahn geheißen. Die Platanen, die früher die Straße gesäumt hatten, gab es nicht mehr, sie waren durch Ebereschen ersetzt worden. Aber an den Longtang***, die rechts und links abgingen, standen noch immer die Reihen der alten Shikumen-Häuser aus Backstein. Wenn sie renoviert waren, konnte man sich in den Häuschen entzückend einrichten, vorausgesetzt, man konnte sich die Miete dann noch leisten. In den unrenovierten Shikumen lebte man dagegen wie in einer Legebatterie. In jedem Häuschen wohnten mehrere Familien, und alle teilten sich eine Küche mit einer Patina aus Fettschmutz. Der Innenhof, in den man durch das Vordertor gelangte, musste mit Wellblech überdacht und als Zimmer genutzt werden, und es gab nicht genug Toiletten und Bäder. Die Überbelegung der Shikumen hatte direkt nach ihrer Errichtung in der Kolonialzeit begonnen, und später unter den Kommunisten war es nicht besser geworden. 

Man konnte zwanzigmal so viel Wohnraum schaffen, wenn man die Shikumen abriss und Hochhäuser an ihre Stelle setzte, und das geschah auch häufig genug. Aber die Shanghaier waren sehr stolz auf sich und ihre Stadt, selbst auf Beijing und Hongkong schauten sie herab, und in den Shikumen und Longtang waren sie nun eben aufgewachsen. Davon abgesehen standen die Häuser für die Vermischung der Kulturen, in der die Stadt ihre Ursprünge hatte. Die Briten hatten die Shikumen nach dem Vorbild ihrer Arbeitersiedlungen entworfen und dann abgewandelt, damit sie den chinesischen Geschmack trafen, mit Flügeltoren und Innenhöfen und Einliegerkammern auf halber Treppe, und es war etwas Einzigartiges und Erfolgreiches herausgekommen. 

Dementsprechend standen die Shikumen jetzt überwiegend unter Denkmalschutz, auch das Viertel in der Jiashan Lu und überhaupt die Hälfte der ehemaligen Französischen Konzession. Nachmittags spielten die Kinder in den Longtang-Gassen, die Männer vom Antiquitätenladen saßen auf dem Bürgersteig und restaurierten Möbel, und die alten Leute stellten Klappstühle an den Straßenrand und saßen unter den Bäumen und spielten mit klickernden Spielsteinen Majiang****



*     Dampfnudeln

**    mit Reis und Fleisch gefüllte, zugbeutelförmige, gedämpfte Teigtaschen
***  alte Shanghaier Gassen
**** Canasta-ähnliches Spiel mit Spielsteinen statt Karten